Sommer

Nach einer sehr langen Regenzeit, sind wir inzwischen voll im Tokioter Sommer angekommen. Für uns das erste Mal eine schon bekannte Jahreszeit, nun sind wir schon über ein Jahr in Japan.

So richtig eingestiegen in den Sommer sind wir auf Miyako-jima, einer kleinen japanischen Insel der Okinawa-Gruppe, irgendwo mitten im Wasser zwischen Japan und Taiwan.

Urlaub im Nirgendwo

Miyako-jima war unser Corona-Ersatzziel, da wir als nicht-japanische Einwohner Japans nach wie vor von dem sehr strikten Wiedereinreiseverbot betroffen sind, das seit Anfang April angewendet wird und jedes Reisen, abgesehen von zugrunde liegenden humanitären Notfällen, unmöglich macht. So sehr ich das Einreiseverbot für in Japan lebende Ausländer auch ablehne und im Vergleich zur freien Reisemöglichkeit jedes japanischen Staatsbürgers schlicht als diskriminierend empfinde, für eine Urlaubsreise in Corona-Zeiten finde ich es völlig angemessen, sich auf Reisen innerhalb des Landes zu beschränken. Und wenn dieses Land Japan ist, kann nicht wirklich von einer Beschränkung die Rede sein. Von Modern bis Traditionell, Stadt und Land, Berge und Meer, Japan hat so viel zu bieten, dass es nicht schwer fällt, ein Urlaubsziel zu finden – höchstens weil es zu viele Optionen gibt.
Da wir mit Tokio als Wohnort eher nach Ruhe und Entspannung gesucht haben und ursprünglich ohnehin gerne ans Meer wollten, fiel die Entscheidung schließlich auf Miyako-jima und eine kleine Hotelanlage mit einzelnen Bungalows an der Südküste der Insel. Anders als ich es auf den Bildern aus deutschen Urlaubsorten gesehen habe, war Miyako nicht überfüllt, ganz im Gegenteil: durch den fehlenden internationalen Tourismus und kurz vor der Hauptreisesaison in Japan war die Insel sehr ruhig und wir vermutlich die einzige nicht-japanische Familie weit und breit.

Fotografieren auf Japanisch

Wir sind es ja wirklich schon gewöhnt heimlich oder offen angestarrt zu werden, aber auf dieser beschaulichen Insel, haben wir hier nochmal ein neues Level erreicht. Was ich schon in Tokio gelernt habe, sich aber in Miyako nochmal bestätigte: In Japan gibt es ein paar Meister der sneaky pictures. Während das ungefragte Fotografieren von Fremden hier eigentlich sogar verboten ist, wird es dennoch sehr gerne praktiziert – besonders an uns, wie mir scheint. Aber, weil es ja zum einen verboten ist, und wahrscheinlich auch jedem klar ist, dass das Fotomotiv vielleicht nicht unbedingt einverstanden, ungefragt fotografiert zu werden, wird es eben heimlich gemacht. Da es ja nun aber immer noch nötig ist, das Handy so in Position zu bringen, dass die Linse uns auch einfängt, ist es dann auch nicht immer so heimlich. Zum Beispiel, wenn eine Frau mit erhobenem Handy so schnell und unauffällig wie möglich an uns vorbei geht und schnell auf den Auslöser drückt. Super. Ich versuche, dabei meinen Humor zu behalten und es zu ignorieren, aber ich verstehe ein bisschen mehr, wie schrecklich dieses Verhalten für Promis sein muss. Und in Japan hat das heimliche Fotografieren noch einen unschönen Beigeschmack: gerade das ungewollte Fotografieren von Frauen, besonders das Upskirting, ist dermaßen zur gängigen Praxis geworden, dass man in Japan erworbene Handys nur mit hörbarem Shutter Sound bekommt. Man kann also das Auslöser-Geräusch beim Fotografieren nicht ohne weiteres deaktivieren. Hmm.

Deutsches Dorf und Nemos Freunde

Ungeachtet der fragwürdigen Hobby-Fotografen, hatten wir uns auf ein paar Tage Strandurlaub gefreut und wurden nicht enttäuscht. Miyako-jima hat nicht nur wunderschöne weiße Sandstrände und türkisblaues Wasser sondern auch unzählige Korallenbänke in direkter Strandnähe, so dass auch kleine Nachwuchsschnorchler die Chance hatten, einen vorsichtigen Blick zu riskieren. Und dann auch noch Anemonenfische, also lauter kleine Nemos, in Aktion zu sehen, rief große Begeisterung hervor.

Strandzeit
Erkundungstour
Strandgut
Großer Sandkasten
Unterwasser-Entdecker
Rush Hour bei den Fischen
Anemone mit Bewohnern
Keine Tattoos am Pool…
Fantastisch verpflegt

Aber Miyako-jima hatte für uns ドイツじん, also Deutsche, noch eine besondere Überraschung parat: das Deutsche Kulturdorf!!!
Nachdem 1873 ein Schiff mit deutscher Besatzung auf einem Riff vor Miyako-jima strandete und acht Seeleute gerettet werden konnten, bedankte sich Kaiser Wilhelm I mit einer Gedenkstele, die noch heute ausgestellt ist. 1995 wurde zurückgehend auf diese Vorgeschichte der deutsche Themenpark erbaut. Bestaunen kann der geneigte Insel-Tourist hier neben einem Kinderhaus – dessen Bedeutung sich uns nicht recht erschlossen hat, zudem es neben Diddl-Mäusen Originalstücke der Berliner Mauer beherbergt – und einem Palais im Stil des 18. Jahrhunderts eine Nachbildung der Marksburg am Rhein besichtigen. Eigentlich war der Plan, das Original zu kaufen, in Deutschland abzubauen und auf Miyako wieder zu errichten, was nicht zustande kam.
So bietet sich mit der japanischen Kopie heute der wirklich interessante und gerade für unsere Augen ungewöhnliche Anblick einer typisch deutschen Burg umgeben von einem postkartenwürdigen Südsee-Panorama. Richtig abenteuerlich wurde es für uns dann noch in der Burg, die ein Museum für…naja, Deutschland ist und unter anderem die deutsche Lebensweise präsentieren soll. Falls noch nicht bekannt: wir sind einfach alle Bayern.

Echt jetzt?
Eine deutsche Burg direkt am Meer
Palais gefällig?
Und so sahen Bube und Dame ihr erstes Stück der Berliner Mauer auf Miyako-jima…
Deutsch für (japanische) Anfänger
Oha…aufgepasst
Zünftig!
Selbst die kleine Dame fragt sich, warum die so komisch aussehen.
Bestimmt praktisch so ein Raum für einen Rest

Neben der Besichtigung deutscher Kultur und Lebensweise haben wir aber die meiste Zeit an unserem kleinen Strand verbracht und wahlweise Korallen, Fische, Krebse oder japanische Lebensweise, genauer das Badeverhalten bestaunt. Wenngleich mir hier fast ein eigenes sneaky picture zur Illustration fehlt, beschränke ich mich auf eine kurze Beschreibung des für uns wenig nachvollziehbaren Treibens um uns herum. Während wir in Badeanzügen und -hosen, bisweilen allenfalls noch mit UV-Oberbekleidung gegen die intensivsten Sonnenstunden auf unseren Handtüchern am Strand saßen, Korallen sammelten oder uns im Wasser rumtrieben, um dann je nach Laune und Tageszeit nach ein bis drei Stunden mal wieder den Rückzug anzutreten, sah das bei unseren Mit-Touristen völlig anders aus. Hier ging man nur an den Strand, wenn man ins Wasser wollte, um danach postwendend wieder jeglichem Sonnenlicht zu entfliehen. Statt Badebekleidung wie wir sie kennen, trug man in der Regel: lange Leggins, darüber eine Badeshorts, Longsleeve oft mit (aufgesetzter) Kapuze plus Sonnenhut mit Riesenkrempe. Auch wenn wir aus Tokio schon gewöhnt sind, dass Japaner und Sonne offenbar keine Freunde sind – Sonnenschirme, lange Sleeves für die Arme und besagte Sonnenhüte – das hatten wir dann doch nicht erwartet. Ganz offenbar ist Strandurlaub überhaupt nicht gleich Strandurlaub.

Vertrauter Klang

Wieder zurück zu Hause, war dann auch in Tokio der Sommer angekommen und mit ihm auch unsere geräuschvollen Freunde vom letzten Jahr: die Zikaden. Was sich beim ersten Mal noch ungewohnt und merkwürdig angehört hat, ist jetzt vertraut und wir haben uns alle gefreut, die Krachmacher wieder zu treffen.
Auch die Lautsprecherwarnungen vor Hitzeschlag gibt es wieder, die einen daran erinnern sollen, ausreichend zu trinken, sich nicht zu überanstrengen und nicht lange in der Sonne zu bleiben – bei Temperaturen zwischen 34 und 37 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von 60-80%, nicht von der Hand zu weisen.

Zum Glück gibt es die vielen Wasserparks auf Tokios Spielplätzen, die nun wieder in Betrieb sind und die wir gerne nutzen. Währen wir uns ein Plätzchen im Schatten suchen und zuschauen, jagen Bube und Dame durch Wasserbecken und -fontänen. Win-Win.

Auf dem Weg zum Spielplatz
Ein Spielplatz voller Dinos – der kleine Bube kann sein Glück kaum fassen
Wasser marsch!
Endlich bekommen die Pinguine auch mal Wasser zu sehen…
…und viele Kinder!
Egal in welcher Form, Wasser ist gerade immer willkommen
Entspannter Zuschauer auf dem Trockenen

Ohne Fleiß kein Preis

Seit Montag hat für die Kinder das neue Kindergartenjahr begonnen und aufgrund der schon vor den Ferien eingeführten und damit gewohnten Maßnahmen zum Schutz vor Corona, war es ein entspannter Start für Bube und Dame, die sich sehr auf ihre Freunde und Lehrer gefreut haben.

Während der Ferienwochen konnte ich dank Benni, der im Homeoffice ein bisschen Kinderbeaufsichtigung einschieben konnte, meine Sprachkurse fortsetzen. Der Intensivkurs ging mit einer Lern-Expedition durch Azabu-jūban zu Ende. Mit sensei Abe-san besuchten wir zunächst den Jūban Inari-jinja Schrein. Dieser Shintō-Schrein beherbergt zum einen Abbildungen des Schatzschiffes der sieben Götter, ein Zeichen für viel Glück und eine Statue von Kaeru-san, Herrn Frosch, der Glück und verlorene Gegenstände zurückbringen kann und für eine sichere Heimkehr steht. Abe-san hat uns gezeigt, wie in Shintō-Schreinen gebetet wird und uns die Bedeutung der Ema erklärt, Holzplatten, die an den Schreinen gekauft und mit Wünschen beschrieben werden können. Anschließend gibt man sie am Schrein ab und sie werden aufgehängt in die nächsten Gebete mit eingeschlossen.

Aufgang zum Inari-jinja Schrein – bitte immer schön rechts oder links halten, die Mitte ist für die Götter
Die Ema des Schreins mit dem Glück bringenden Schatz-Schiff
Kaeru-san – Herr Frosch – bringt Glück und verlorene Gegenstände zurück

Unsere bis dahin erlernten sprachlichen Fähigkeiten konnten wir dann noch an verschiedenen Aufgaben in Azabu testen. Wir sollten in einer kleinen Donutbäckerei eine Bestellung für das Team der Sprachschule aufgeben, die wir vorher telefonisch erfragen mussten. Mit vielen Knoten im Hirn und laaaaaangsamen Sätzen konnten wir unseren Auftrag erfolgreich ausführen. Danach ging es zu einem der zahlreichen 100¥-Shops, der japanischen Entsprechung der 1€-Läden, nur meist sehr viel nützlicher und mit einem besseren Angebot. Die Aufgabe war ein Paar Stäbchen zu kaufen, mit denen wir später zurück in der Sprachschule in einem Bohnen-Aufsammelwettbewerb gegeneinander antreten durften.

Letzte Station der Expedition war die Statue von Kimi-chan oder dem „Mädchen mit den roten Schuhen“, wovon es insgesamt acht in Japan und eine in San Diego gibt. In einem alten japanischen Kinderlied (Akai Kutsu = rote Schuhe) erinnert sich eine Mutter an ihre Tochter, die mit Ausländern das Land verlassen hat. Das Lied hat eine wahre Geschichte als Ursprung, jedoch wurde das Mädchen den Überlieferungen zufolge von amerikanischen Missionaren adoptiert und sollte mit ihnen in die USA zurückkehren. Vor der Abfahrt erkrankte Kimi-chan jedoch an der damals unheilbaren Tuberkulose und wurde in ein Waisenhaus in Azabu-jūban gebracht, in dem es schließlich starb. Das Waisenhaus stand an der Stelle, an der sich heute der Inari-jinja Schrein befindet.

Auch Kimi-chan trägt Maske

Nach viel Übung und Erkundungstour ging der erste Sprachkurs zu Ende. Mittlerweile bin ich fast mit dem zweiten fertig, wir schreiben und lesen nicht mehr in Romaji sondern ausschließlich in Hiragana und Katakana und haben mit den ersten Kanji begonnen. Stück für Stück werden die Satzstrukturen und das Vokabular dichter und komplizierter. Auf der Straße und in Geschäften feiere ich jedes Wort, das ich verstehe und sagen oder lesen kann.

Kanji, also die komplexeste Schriftform, bringt mich nach wie vor an meine Grenzen. Sowohl aufgrund der entmutigenden Tatsache, dass es davon mehrere Tausend gibt als auch wegen der sehr komplizierten kontextabhängigen Lesart jedes Einzelnen. Ein Kanji hat meist mehrere verschiedene Lesarten, sowohl sinojapanische, zurückgehend auf die chinesische Lesart des Zeichens (kurz on-Lesart) und japanische (kun-Lesart) und hat dabei meist je mehrere in on oder kun. Für eine Bedeutung kann ein Kanji hierbei manchmal für sich alleine stehen, für andere braucht es weitere Kana-Ergänzungen. Ganz abgesehen davon besteht ein Kanji meist aus vielen Strichen und Bögen, die es zusätzlich schwierig machen, es zu lernen. Es gibt noch viel zu tun…

Hausaufgaben

Wenn wir uns nicht gerade in der Schule oder auf Wasserspielplätzen rumtreiben, versuchen wir wieder vorsichtig die zahlreichen Unterhaltungsangebote und Entdeckungstouren Tokios zu nutzen. So zum Beispiel das Tokyo Trick Art Museum. Vor Motiven aus Japans Geschichte und Legenden konnten wir nach Herzenslust posen und die richtige Stelle für die perfekte optische Täuschung suchen.

Insgesamt ist es immer noch schwierig, Museen, Ausstellungen oder andere Einrichtungen zu besuchen, die sich alle sehr viel Mühe geben, die Schutzmaßnahmen vor Corona umzusetzen. In den meisten Fällen ist eine Online-Registrierung je nach Einrichtung zum Teil Wochen im Voraus erforderlich und nicht immer gibt es dazu englische Versionen. Langweilig wird es trotzdem nie, so dass wir mit den Corona-Auflagen insgesamt gut zurecht kommen.

Ab September werden nun endlich auch alle ausländischen Einwohner mit Auflagen wieder nach Japan zurück kehren dürfen, der Einreisebann hat nach fünf Monaten ein Ende. Auch wenn es noch viele offene Fragen gibt, etwa zu der Art der Tests, die man dafür vor und nach dem Flug machen lassen muss, besteht für uns dann grundsätzlich wieder die Möglichkeit nach Deutschland auszureisen und danach wieder an unseren Wohnort zurückkehren zu können. Den Schaden, den diese klare Ungleichbehandlung von japanischen und nicht-japanischen Einwohnern über Monate für internationale Unternehmen und hier lebende Ausländer angerichtet hat, wird noch langfristige Folgen haben. Viele Ausländer, die nicht zurückkehren konnten, haben ihre Wohnung und ihren Arbeitsplatz hier verloren, viele werden nicht mehr zurückkehren, andere, die geplant hatten, nach Japan zu kommen, werden ihre Entscheidung noch einmal überdenken und ein Teil derer, die noch hier sind, werden nicht länger bleiben wollen. Corona hat vieles verändert, aber der Umgang damit macht in vielen verschiedenen Aspekten den Unterschied.